Das Modell der VUCA Welt hat uns jahrelang geholfen, mit dessen Begriffen der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, sowie den dazugehörigen Instrumenten, komplexe Veränderungen zu beschreiben und hat uns hin zu einem Agieren unterstützt. Unsere aktuelle Welt und die Geschehnisse, wie wir sie erleben, lassen sich mit den VUCA Kriterien immer schwerer beschreiben und wir vermuten, dass wir neue Kriterien und Instrumente benötigen, für die nächste Phase unseres wirtschaftlich-globalen Handelns.

VUCA und Komplexität

Das VUCA Modell ist mittlerweile in Unternehmen sehr bekannt, unterstützt u.a. bei der Entscheidungsfindung und muss heute meist nicht mehr erklärt werden. Oft wird dabei auch ein Modell aus der Organisationstheorie fokussiert, die Stacey Matrix, die von Prof. Ralph Douglas Stacey entwickelt wurde. Dabei ist der Begriff der Matrix unpräzise, sondern es handelt sich um ein Koordinatensystem, auf dessen Y-Achse die Klarheit und Unklarheit von Zielen und Anforderungen steht und auf der X-Achse wie klar und unklar das mögliche Vorgehen, bzw. die Lösungsansätze sind.

 

Dies in Verbindung mit dem Cynefin Framework (David John Snowden), welches das Koordinatensystem in die vier Kategorien „einfach“, „kompliziert“, „komplex“ sowie“chaotisch“ einteilt. Snowden erklärt, dass es zwischen den Individuen und der Umwelt eine Vielzahl sich gegenseitigen, beeinflussenden Wechselwirkungen gibt, auf die ich weiter unten noch eingehen werde. Die bisherige Welt der Veränderungen, die Digitalisierung, der Wertewandel und die gesellschaftlichen Veränderungen (z.B. Generation Z) konnte man bisher gut mit der Komplexität beschreiben. Komplexe Systeme sind im Gegensatz zu komplizierten Systemen ungeordnet, so dass die Ursache-Wirkungsbeziehungen nicht mehr vorausschauend, sondern nur im Rückblick erkannt werden können. Aus dieser Betrachtung hat sich die Agilität, auf Basis des Agilen Manifestes aus der Softwareentwicklung, in die allgemeine Unternehmenswelt durchgesetzt. Die Agilität mit ihren Tools (Design Thinking, Scrum, Stand Up Meetings, usf.) werden in immer mehr Unternehmen umgesetzt, mit dem Ziel, den sich ständig veränderten Umwelten schnell und flexibel zu begegnen.

Von der Komplexität zum Chaos

Wenn wir die aktuellen Geschehnisse näher betrachten, werden wir merken, dass sich viele Situationen nicht mehr mit VUCA, bzw. Komplexität vollständig erklären lassen. Wir erleben und spüren Veränderungen, die eher an Formen von chaotischen Systemen erinnern, wobei Chaos definiert ist als ein Zustand von völliger Unordnung und Verwirrung. In chaotischen Systemen können keine Ursache-Wirkungsbeziehungen identifiziert werden, Vorhersagen sind nur in sehr kurzen Zeitspannen möglich und die Ergebnisse von Handlungen sind oft völlig unvorhersehbar. In Systemen mit Chaos sind Umwälzungen so überraschend, dass wir desorientiert werden. Komplexen Situationen lösen bei uns Menschen oft Stress aus, in chaotische Situationen wird der Stress potenziert. Diese chaotischen Systeme können wir am Beispiel von COVID-19 und der Klimaveränderung erleben, die am Anfang langsam und dann mit einer Wucht auf unsere Gesellschaft und die Unternehmen einwirken, bzw. einwirken werden, so dass bisherige Handlungsmuster nicht mehr so wirksam sind, wie in der Vergangenheit. Wir haben neben der Chaos Theory keine allgemeingültigen und verständlichen Kriterien, chaotische Situationen zu beschreiben und keine Lösungen, wie wir damit umgehen sollen. In „Facing the age of chaos“ erklärt 2020 der US-Anthropologen und Historiker Jamais Cascio mit seinem BANI Modell, wie Chaos beschreibbar wird. Wir übernehmen dieses Modell mit dem deutschen Akronym SANU und erweitern die Ergebnisse mit ersten Handlungsoptionen.

 

S = Spröde

Der Begriff „Spröde“ (hier nicht als psychologische Zuschreibung gemeint) lässt sich bildlich mit dem Vergleich eines Wasserschlauchs gut erklären. Das Material  ist am Anfang sehr stabil und belastbar, egal wie groß der Druck im Innen und Außen ist. Mit der Zeit wirken unterschiedliche Faktoren wie Temperatur, mechanische Reibungen auf den Schlauch und das Material wird spröde, was nicht sofort bemerkbar wird, bis es zu einem Bruch kommt und plötzlich Wasser austritt. In einer einfachen Welt lässt sich durch den Dreh am Wasserhahn zwar der Wasserausfluss stoppen, aber der Schlauch ist meist so kaputt, dass er ersetzt werden muss. Bei der sich anbahnenden und schon vorherrschenden Klimakatastrophe lässt sich „Spröde“ jetzt schon ablesen. Schon vor 1980 waren die Ursachen bekannt, der Schlauch noch stabil. Auch wenn wir jetzt sofort alles umsetzen, was die Wissenschaft uns empfiehlt, gehen die Prozesse der Klimakatastrophe für viele Jahrzehnte trotzdem weiter und werden massiven Einfluss auf uns, unsere Wirtschaft und das Miteinander haben. Hier wird deutlich, wie verletzbar und zerbrechlich unsere Systeme sind.

Der gleiche Effekt lässt sich auf die kritischen Systeme Energieversorgung, globaler Handel, Geldschöpfung der Banken, Monokulturen usw. übertragen. Wir wissen und ahnen schon länger diesen spröden Effekt, aber es ist in einem demokratischen System mit den unterschiedlichen Interessengruppen und Sichtweisen sehr schwer möglich, schnelle Entscheidungen zu treffen, verbunden mit einer mangelnden Bereitschaft etwas zu verändern. Effizienzsteigerungen sind meist die Antworten. Als Beispiel kann man die Erfindung unseres Otto Motors erwähnen, der lange als sicher und für die Ewigkeit bestehende Lösung gesehen wurde. Viele Ingenieure arbeiteten und arbeiten daran, die Motoren effizienter zu machen, heute wissen wir, dass der E-Motor den Otto ablösen wird, aber uns auch nur eine gewisse Zeit helfen wird.

 

A = Angst

Angst ist ein Grundgefühl, das sich in bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und unlustbetonte Erregung äußert (Wikipedia). Chaotische Situationen lösen bei vielen Menschen Angst, ein Gefühl der Hilflosigkeit aus, sowie das Gefühl, wenn man sich entscheidet, dass diese Entscheidung in der Auswirkung katastrophal sein können. Angst kann zu Passivität „wir haben keine Wahl und passen uns an“ und zur Verzweiflung, einem Aufruhr und Widerstand führen. In der Vergangenheit hat unsere mediale Welt aus wenigen Fernsehsendern und ein paar Zeitungen bestanden, denen wir vertraut haben. Heute gibt es eine unzählige Anzahl von Medien mit teilweise selbsternannten Journalisten, einem in Deutschland immer noch nicht rechtlich gesicherten Begriffs. Somit kann jeder heute seine Meinungen kundtun und die Anzahl der Follower entscheiden über die Macht der verbreiteten Meinungen. Seit Trump hat sich der Begriff „Fake News“ etabliert und wir wissen bald nicht mehr, was ist „wirklich“ richtig oder falsch, oder ist das alles durch ein ausländisches Propagandateam gesteuert. Sascha Lobo nennt das die „Denkpest“ – ein Bauchgefühl, irgendetwas ist falsch, so dass wir ein Abwehrgefühl entwickeln. Deutlich zu erkennen an den unterschiedlichen Sichtweisen zu COVID-19 und Impfen. All das macht auch keinen Halt vor den Türen der Unternehmen und viele Führungskräfte spüren diese unterschiedliche Angst im Team und wissen auch oft nicht, wie sie damit umgehen sollen. Themen die besprochen werden sollten, werden ausgeklammert und diese Sprachlosigkeit ist der Nährboden, damit sich Angst ausbreitet.

 

N = Nicht-Linear

Wie schon weiter oben beschrieben, scheinen Ursache und Wirkung nicht mehr miteinander verbunden zu sein. In nicht-linearen Systemen sind deren Auswirkungen nicht immer proportional zur gesetzten Handlung. Eine nicht-lineare Krise ist COVID-19, immer neue, vielfältige Wirkungen spüren wir in unseren Unternehmen, doch was konkret die Ursachen sind, lässt sich aus systemischer Sicht nicht bestimmen – ist es die Politik, die Fake News, die Globalität, usw.? Wir unternehmen enorme Anstrengungen z.B. bei der Aufklärung über die aktuelle Situation, drängen, schieben, ohne etwas davon zu sehen.

Unternehmenslenker und -lenkerinnen sind hier oft überfordert, was wiederum Stress fördert. Es braucht keine hellseherische Kompetenz, um eine Prognose über den Anstieg von Burnout-Patienten in den nächsten Jahren abzugeben.

 

U = Unverständlichkeit

 Wenn Chaos unser Leben immer mehr dominiert, erscheinen Entscheidungen immer unlogischer und sinnloser. dies erleben wir in Diskussionen in und außerhalb von Unternehmen.

Die Informationsflut, die uns täglich umgibt, trägt nicht zur Klarheit, sondern eher zur Unverständlichkeit bei. Sie überfordert viele Menschen und ist eher kontraproduktiv.

Aus Gründen der Transparenz wird eine Menge an Informationen angeboten, wir haben aber noch nicht wirklich gelernt zu selektieren und wegzulassen. Zu stark ist noch in vielen von uns das Paradigma vorhanden: „Wenn ich das jetzt nicht lese, könnte ich vielleicht falsch entscheiden…..“ Mitarbeitende die in einer Verwaltung tätig sind, haben oft auch die Herausforderung, dass sie von „amtswegen“ viele Informationen wissen müssten. Bei falschen Entscheidungen hilft es in solchen Jobs nichts, wenn Sie sagen: „das alles konnte ich doch garnicht lesen oder berücksichtigen….“ – sie werden haftbar für Entscheidungen gemacht und können eigentlich keinen „Mut zur Lücke“ haben. Ein unauflösbares Paradigma, was nur deshalb gelingt, weil es oft gut geht.

Die Prozesse und Richtlinien, die in solchen Unternehmen in einer Welt der 80er Jahre entstanden sind, passen nicht mehr in die heutige Welt. Dies gilt aber nicht nur für Verwaltungen – auch in anderen Unternehmen liegt häufig eine viel zu große Verantwortung auf einzelnen Personen, die auf der Basis von Teilinformationen Entscheidungen fällen dürfen.

 

Erste Schritte, dem Chaos zu begegnen

Spröde Systeme

Im ersten Schritt ist es wichtig, spröde Systeme beschreibbar zu machen, d.h. es braucht einen Diskurs im Team und im Unternehmen, über Kriterien „woran erkennen wir bei uns im Unternehmen spröde Elemente“, dies verbunden mit einem systemischen Blick auf Trends und Einflussfaktoren der Stakeholder. Der Fokus auf „Spröde“ ermöglicht eine andere Analyse und daraus resultierend andere Entscheidungen, die von bisherigen Mustern, wie z.B. „Effektivität steigern“ abweichen können und sollten. Darüber hinaus braucht es ein unternehmensinternes, nachhaltig aufgesetztes Resilienz-Programm, welches die Mitarbeitenden und Führungskräfte dabei unterstützt, die eigenen, benötigten Ressourcen zu identifizieren, die dabei helfen, chaotische Situationen zu erkennen und zu meistern.

 

Angst

Angst entsteht durch kognitive Dissonanz, ein Erklärungsmodell des US-amerikanischen Psychologen Leon Festinger. Mit diesem Modell lässt sich in unternehmensinternen Workshops gut arbeiten, um zu verstehen, wie Angst entsteht und was Angst in uns auslöst und um alternativer Verhaltensweisen zu finden. Achtsamkeitsprogramme können den Prozess der Selbstbeobachtung unterstützen, einen Helikopterblick einzunehmen, um wieder handlungsfähig zu werden. Dieses immer wieder in das „Hier und Jetzt“ zu kommen, ist für viele Menschen schwierig und gehört trainiert, teilweise auch entmystifiziert, denn Achtsamkeit wird immer wieder in die Ecke der Esoterik gebracht. Achtsamkeit unterstützt die Führungskräfte im„Hier und Jetzt“ zu leben, Entscheidungen zu treffen und ermöglicht  ein Aussteigen aus der eigenen Angstspirale, oder anders ausgedrückt, ein Ausstieg aus dem innerlich gedrehten worst-case Film.

 

Nicht-Linear

Die Wandlungsfähigkeit, oder Adaptionsfähigkeit  genannt, ist die Fähigkeit, sich an neue Gegebenheiten anzupassen. Damit Führungskräfte diese Fähigkeit entwickeln können, kann die Personalabteilung ein ressourcenorientiertes Coaching unterstützend anbieten, mit dessen Hilfe z.B. ein „best possible self“ entwickelt werden kann, also ein zukunftsorientiertes Selbstbild, wie man sich als Führungskraft an die neuen, herausfordernden Situationen angepasst hat. Ein Modell, welches im Leistungsport schon seit langem genutzt wird. Auf Basis dieses Modells aus der Positiven Psychologie werden neue Handlungsoptionen wieder möglich.

 

Unverständlichkeit

Die Menge an Informationen wird nicht abnehmen, wir können nur lernen, damit umzugehen. Die Unternehmen müssen den Mut belohnen für ein Handeln, bei dem Fehler entstehen könnten, also weg von einer Null-Fehler-Strategie, die immer noch in vielen Unternehmen vorherrscht.

Erst durch diesen Mut und die Erlaubnis kommen wir bei der Informationsflut aus der Starre und Lähmung. Auch dieser Mut, sich Fehler zu erlauben und daraus zu lernen, um alte Muster zu durchbrechen, gehört thematisiert.

Steve Jobs hat gesagt, dass Intuition sehr machtvoll ist, sogar machtvoller als der Intellekt – und da hatte er recht. Eine Fähigkeit, die wir (wieder) erlernen können. Intuition ist der Leuchtturm, der uns gut durch das Leben bringt und Intransparenz durchdringen lässt.

In chaotische Situationen ist es unmöglich die Umstände für eine Entscheidung unter Berücksichtigung aller relevanter Faktoren zu überdenken und eine rationale Analyse anzustellen. Somit ist es wesentlich eine Situation intuitiv zu erfassen, um daraus eine Handlung abzuleiten. Intuition ist uns angeboren, wir haben sie in dem Tempo unserer Zeit teilweise verloren und sie gehört wieder geweckt.  Auch hier kann die Personalabteilung durch Coaching-Programme diesen Prozess unterstützend begleiten.

 

Fazit

Die Menschheit tritt in die nächste Phase Ihrer Entwicklung ein, denn der Umgang mit chaotischen Situationen wird ein fester Bestandteil unseres Verhaltens- und Denkrepertoires werden. Genauso wie wir den Umgang mit komplexen Situationen durch diverse Tools und einem agilen Mindset gelernt haben, werden wir neue Fähigkeiten und Überzeugen brauchen, um mit chaotischen Situationen umgehen zu können. Der Begriff der Persönlichkeitsentwicklung steht aus meiner Sicht wieder im Vordergrund, nicht als Beiwerk wie früher, sondern als zentraler Bestandteil der Führungskräfte- und Mitarbeitende-Entwicklung auf dem Weg in die Zukunft.

 

Ein Artikel von Uwe Reusche GF ifsm GmbH& Co.KG